„Sportlerinnen sind die perfekten Ärztinnen“: Wie Hockey-Ass Selin Oruz ihr Doppelleben meistert
Im Bus auf der Fahrt zum Spiel mit den Teamkolleginnen lauthals Songs von der Playlist singen und sich gemeinsam einstimmen auf das bevorstehende Match.
Das ist die eine Seite von Selin Oruz.
Und dann ist da die andere Seite.
Wenn die 27-Jährige Patientinnen und Patienten in ihrer weißen Ärztinnenkleidung untersucht und befragt.
Für Oruz gehört beides zusammen. Die deutsche Hockey-Nationalspielerin hat Medizin studiert und seit vergangenem Jahr ihre Approbation als Ärztin in der Tasche.
Von einer Doppelbelastung will sie allerdings nicht sprechen. Die Krefelderin sieht ihre sportliche Karriere sogar als Vorteil für ihren Beruf.
„Sportlerinnen sind die perfekten Menschen, um Ärztin zu werden. Sportler haben so viele Eigenschaften, die man braucht, um unter schwierigen Bedingungen in deutschen Krankenhäusern zu arbeiten“, sagt Oruz im Gespräch mit Olympics.com.
Stressresilienz und Empathie nennt sie als wichtigste Eigenschaften, die man als Ärztin aber auch als Mannschaftssportlerin brauche.
Zumindest der Weg in die Medizin war ihr als Tochter eines Ärzte-Ehepaars vorgezeichnet. Anders sieht es mit ihrem Werdegang als Hockeyspielerin aus: „Meine Eltern hatten keinen Sport-Bezug“, erklärt sie.
Und doch gab der medizinische Hintergrund ihrer Eltern den entscheidenden Anstoß für Oruz‘ zweite Karriere. Die Sorge um die Gesundheit und das Wohlergehen ihrer Tochter brachte die kleine Selin zum Sport, wie sie erzählt: „Sie wollten, dass wir Kinder draußen sind, uns bewegen und Spaß mit anderen Kindern haben. Das war die Basis.“
Bruder Timur als wichtiger Unterstützer
Vorbild in Sachen Hockey war ihr Bruder. Timur ist zweieinhalb Jahre älter als Selin und steckte sie mit der Hockey-Leidenschaft an. Bereits als Vierjährige griff sie in Krefeld zum Schläger.
Wie seine Schwester hat auch Timur mit der deutschen Nationalmannschaft der Männer schon an zwei Olympischen Spielen teilgenommen.
Als Vorbild aber auch ständiger Ansprechpartner hat ihr Bruder große Bedeutung für ihre sportliche Karriere, wie Selin betont: „Ich konnte mit meinem Bruder immer über Hockey sprechen und auch über die spezielle Herausforderung und den Druck, den man manchmal als Spitzensportler hat. Das war auf jeden Fall ein Vorteil, jemanden zu haben, der in der gleichen Situation ist.“
Womöglich hätte sie es ohne ihren Bruder gar nicht so weit gebracht, deutet sie an: „Vielleicht hatte ich auch deshalb die Motivation immer weiterzumachen, immer dranzubleiben, nicht aufzugeben.“
Doppelleben für Oruz normal
Für Oruz hat es sich auf jeden Fall gelohnt, immer dranzubleiben. Für die DANAS hat die Rheinländerin mittlerweile 160 Länderspiele absolviert, in der Feldhockey-Bundesliga mit dem Düsseldorfer HC 2021, 2022 zwei Deutsche Meisterschaften gefeiert. Und nebenbei ihr Medizinstudium erfolgreich absolviert.
Die Frage, wie sie das alles unter einen Hut kriege, ihr Leben als Spitzensportlerin und Medizinerin hat Oruz in den vergangenen Jahren deshalb schon öfter gehört.
Was sich für andere nach großem Stress anhört, ist für sie jedoch völlig normal.
„Ich bin mit diesem Doppelleben aufgewachsen. Ich musste immer Schule beziehungsweise Studium mit meinem Dasein als Sportlerin, letztlich sogar Spitzensportlerin vereinbaren. Aber mir war es immer wichtig, Spaß in meinem Sport zu haben und dennoch für den anderen Lebensbereich hart zu arbeiten. Zumal wir als Hockeyspielerinnen nicht nur vom Hockeysport leben können.“
Oruz sah es in gewisser Weise auch als persönliche Challenge an: „Für mich war es eine Herausforderung, unter Beweis zu stellen, dass es möglich ist, eine Sportlerin zu sein, die an den Olympischen Spielen teilnimmt und gleichzeitig Medizin zu studieren.“
Sie hat es nicht nur einmal zu Olympia geschafft. Nach Rio 2016 und Tokio 2020 stehen ihr mit Paris 2024 ihre dritten Spiele bevor.
Gereifte Oruz nun Führungsspielerin
Ihre Vorfreude ist jetzt schon riesig: „Die Olympischen Spiele sind das Beste, das uns Sportlerinnen passieren kann. Wir trainieren so hart, und die Olympischen Spiele sind das wichtigste Sportereignis der Welt. Ich freue mich darauf, den Olympischen Spirit wieder erleben zu dürfen. Ich freue mich auf die Zeit mit den anderen Athletinnen und Athleten und den ganzen Fans drumherum.“
Am kommenden Wochenende (4. und 5. Mai) darf sie mit den DANAS schon mal Pariser Luft schnuppern. Bei einem Testturnier geht es unter anderem gegen die Mannschaft des Gastgebers.
Das Team sei hochmotiviert nach dem verpassten Titel bei der Heim-EM 2023, verspricht Oruz: „Wir waren enttäuscht, dass wir es nicht ins Finale geschafft haben. Jetzt wollen wir unser wahres Potenzial zeigen. Wir hatten jetzt genug Negativerlebnisse, jetzt wollen wir performen.“
Mit Blick auf ihre persönliche Entwicklung auf dem Hockey-Feld fühlt sie sich nach Bronze in Rio 2016 bereit für den ganz großen Wurf bei den Olympischen Spielen: „Ich weiß jetzt, worauf es ankommt, um sich bestmöglich auf ein Match vorzubereiten. Ernährung, Schlafzeiten, Yoga und so weiter. Ich bin jetzt viel ruhiger und selbstsicherer. Ich weiß jetzt, was es braucht, um das Beste aus mir herauszuholen.“
Im Team nimmt sie aufgrund ihrer Erfahrung eine Führungsrolle ein und mache sich auch Gedanken über die Taktik: „Diese Rolle macht mir Spaß.“
Die letzten Jahre bedeuteten nicht immer nur Spaß für sie, gibt sie zu: „Es bedeutete viel Arbeit, viel Organisationstalent“, blickt Oruz zurück. Vor allem musste sie auf Vieles verzichten, was andere junge Frauen machen können: „Oft musste ich Nein sagen zu Partys oder Urlaubsreisen.“
Im Nachhinein fühlt sie sich aber mehr als bestätigt. Sie hat es allen Zweiflern mit dem erfolgreichen Meistern ihres Doppellebens gezeigt:
„Es war ein Traum von mir. Und ich habe es denjenigen bewiesen, die behaupteten, man könne nicht beides zugleich machen. Es war nicht immer leicht, aber am Ende hat es sich gelohnt. Und ich bin glücklich jetzt da zu sein, wo ich gerade bin.“