Die Kunst des Routenbaus für Boulder- & Lead-Wettkämpfe

Olympic Qualifier Series
10 minVon Leandro Stein
Alexander Megos klettert ins Halbfinale der Olympic Qualifier Series 2024 in Shanghai
(OIS/IOC. Olympic Information Services OIS.)

Das kombinierte Klettern, genannt Boulder & Lead, ist eine der kreativsten Disziplinen bei den Olympischen Spielen. Bei jedem Wettkampf stehen die Athletinnen und Athleten vor neuen Routen mit unterschiedlichen Wandgriffen, die sie stets aufs Neue herausfordern.

Sie müssen einfallsreich sein, um diese "Rätsel" zu lösen. Die Kletterinnen und Kletterer müssen flink die richtigen Handgriffe und Körperpositionen finden, um Kraft zu sparen, nicht abzurutschen und als Erste die Spitze der Wand zu erreichen.

Bevor die Wettbewerbe beginnen können, entwerfen kreative Köpfe der Kletterszene die kniffligen Routen. Die Routenbauer (auch Setter genannt) kombinieren verschiedene Griffe und Module, um die Athletinnen und Athleten auf die Probe zu stellen. Nicht nur das erfolgreiche Erklimmen der Wand ist schwierig, sondern auch das Kreieren einer Route, die unterschiedliche Fähigkeiten erfordert, sich an verschiedene Biotypen anpasst und sogar die größten Klettertalente herausfordert.

„Es gibt ein künstlerisches Element und viele von uns haben auch eine eher analytische, technische Seite“, sagte Percy Bishton, Leiter der Setter im Boulder in Tokio 2020, gegenüber der New York Times (2021).

Die Kletterwand im Boulder & Lead gleicht mit ihren bunten Farben und Formen in jeglicher Art wie ein abstraktes Kunstgemälde. Die Athletinnen und Athleten nehmen sich einen Moment Zeit, bevor sie nach dem ersten Griff greifen, um die Absicht des Routenbauers – des Kunstschaffenden – zu entschlüsseln. Basierend auf ihrer Interpretation der vermeintlich "einfachsten" Route wählen sie verschiedene Strategien, um in der schnellsten Zeit das Podium zu erreichen.

Die deutschen Sportkletterinnen und -kletterer wollen sich als nächstes bei der Olympic Qualifier Series 2024 in Budapest vom 20. bis zum 23. Juni beweisen. Es ist ihre letzte Chance, sich für Paris 2024 zu qualifizieren.

Schwierige Probleme und kreative Lösungen

Nach dem olympischen Debüt des Sportkletterns in Tokio 2020 ändert sich das Format des Wettbewerbs bei Paris 2024. Es wird zwei getrennte Medaillenwettkämpfe pro Geschlecht geben: Speed und die kombinierte Disziplinen Boulder & Lead.

Im Bouldern müssen die Kletterinnen und Kletterer vier verschiedene 4,5-Meter-Anstiege meistern und dabei die sogenannten "Probleme" lösen. Wer die Spitze erklimmt, erzielt 25 Punkte, während das Erreichen der mittleren Zonen weniger Punkte einbringt. Fehlversuche führen zu Punktabzügen.

Im Lead haben die Sportlerinnen und Sportler nur einen Versuch, die 15 Meter hohe Wand auf einer festgelegten Route zu erklimmen. Sie sind mit einem Sicherungsseil gesichert, das an jedem Abschnitt befestigt werden muss. Die Punktwertung ist progressiv und bei vollständigem Abschluss der Route können maximal 100 Punkte erzielt werden. Höhere Griffe sind mehr Punkte wert. Die Kletterzeit beträgt sechs Minuten.

Beim Speedklettern geht es darum, den Gipfel in der schnellsten Zeit zu erreichen, meist in nur wenigen Sekunden.

Für Boulder & Lead müssen die Athletinnen und Athleten vielseitig trainieren und agieren, damit sie sich fast chamäleonartig an jede Herausforderung der Wand anpassen können. Für jede Runde eines Wettkampfs wird die Route neu gestaltet und verändert. Die Kletterinnen und Kletterer haben nur ein paar Minuten vor Beginn des Wettkampfs Zeit, die Route vom Boden aus zu analysieren und einzuprägen. Sie dürfen zuvor nicht die Versuche der Konkurrenz beobachten, damit sich keine Griffe oder Fußpositionen abschauen können und ein fairer Wettkampf gewährleistet wird.

Die stets neuen Herausforderungen und kreativen Boulderprobleme erfordern die harte und geniale Arbeit der Routenbauer. Sie gestalten Szenarien, die die Fähigkeiten der besten Klettertalente testen. „Niemand hat dieses Problem jemals richtig gelöst. Vielleicht ist das der Reiz des Jobs oder das, was ihn so aufregend macht: Man weiß erst am Wettkampftag, ob man alles richtig konzipiert hat", sagte Percy Bishton der New York Times.

Die kreative und handwerkliche Arbeit beim Routenbau

Routenbauer haben, ähnlich wie die Kletterinnen und Kletterer, eine sehr vielseitige und kreative Aufgabe. Ihr Ziel ist es, eine Route zu gestalten, die sowohl herausfordernd als auch machbar ist. Sie müssen die möglichen Bewegungen und Griffabfolgen der Athletinnen und Athleten voraussehen und berücksichtigen, um deren Pläne zu durchkreuzen. Die Routenbauer müssen kreativ planen, damit die Kletterstars selbst kreativ werden können.

Für die Planung der Routen nutzen Routenbauer mehrere Elemente, dazu zählen Module und Griffe. Module sind große geometrische Wandelemente, die dem Aufstieg Tiefe verleihen. Durch diese Polyeder, dreidimensionale Körper, müssen die Kletterinnen und Kletterer eine dritte Dimension jenseits der flachen Richtungen an der Wand überwinden oder können es als Hilfsmittel nutzen. Die Griffe hingegen dienen als Stützpunkte für Hände und Füße, dazu zählen Henkel, Leisten, Sloper, Volumen, Zangen und Stützen. Sie haben unterschiedliche Formen und Texturen. Ihre Anordnung bestimmt, in welchen voraussichtlichen Positionen sie die Klettertalente nutzen werden.

Der kreative Teil des Routenbauers besteht nicht nur in der Planung, sondern auch in der handwerklichen Umsetzung. Sie nehmen den Schraubenzieher selbst in die Hand und klettern die Wände hoch, welche voller Löcher sind, damit die Module und Griffe auf in verschiedenen Kombinationen angebracht werden können**.** Sobald alle Elemente befestigt sind, werden Testläufe durchgeführt**,** um zu prüfen, ob die geplanten Bewegungen realisierbar sind. Es können Anpassungen durch Positions- oder Winkeländerungen vorgenommen werden, Griffe hinzugefügt oder abmontiert werden, um die Abläufe zu erschweren oder zu erleichtern.

„Die Leute denken, wir hätten einen strikten Plan mit vorgefertigten Routen und Ideen, aber so funktioniert es nicht – sicherlich nicht für mich und nicht für andere Leute, mit denen ich zusammenarbeiten werde. Es ist ein sehr organischer und kreativer Prozess. Wir kommen an, schauen uns die Wand an, haben die Griffe und Module vor uns, suchen uns etwas aus, das uns gefällt, und beginnen mit dem Zusammenbau der Boulderroute. So läuft es im Grunde ab. Wenn es cool ist, machen wir weiter, bis es fantastisch ist. Wenn nicht, dann nehmen wir es ab und probieren etwas anderes aus“, sagte Percy Bishton gegenüber dem Climbing Magazin.

„Manchmal passiert es sofort – man befestigt die Griffe und erreicht beim ersten Versuch etwas Erstaunliches. Dies geschieht jedoch selten. Normalerweise gibt es viele endlose Optimierungen und Tests“, fügt er hinzu. „Die Zeit, die wir damit verbringen, die Griffe anzubringen, ist gering im Vergleich zu der Zeit, in der wir die Bewegungen immer und immer wieder testen und versuchen, etwas zu finden, das genau richtig ist.“

10 Merkmale einer optimalen Kletterroute

  • Herausfordernd, aber dennoch machbar
  • Ausgewogenheit von Risiko-, Intensitäts- und Komplexitätselementen
  • Technische Elemente, die kreativ gelöst werden können
  • Zugängliche Lösungswege für verschiedene Körpertypen
  • Geschlechtsspezifischen Unterschieden zwischen Männern und Frauen bei Planung berücksichtigt
  • Sich wiederholende Bewegungen und Abfolgen werden vermieden, kann sonst zu Überbeanspruchung von Muskeln führen.
  • Die Gesundheit der Athletinnen und Athleten im Fokus, Verletzungsgefahr gering
  • Konstanter Schwierigkeitsgrad auf der gesamten Strecke
  • Visuelle Wirkung durch verschiedene Farben und Formen auf der Route
  • Visuelle Wirkung erzeugt fließende Kletterbewegungen

Yufei Pan, da China, compete no Boulder da OQS Xangai 2024

(Zhe Ji/Getty Images)

Der persönliche Stil eines Setters

Für eine optimale Kletterroute greifen die Setter auf ihre eigenen Erfahrungen und Kletterkompetenzen zurück. Einige von ihnen gewannen selbst viele Medaillen im Klettern. „Ich habe ein paar Mal an Wettkämpfen teilgenommen, als ich jünger war. Mir wurde klar, dass es mir zwar Spaß machte, aber nicht mein Lieblingsteil beim Klettern war. Die Wand zu gestalten und Routen zu schaffen, auf denen andere antreten können, hat meine Fantasie wirklich beflügelt“, sagte Percy Bishton.

Der Internationale Verband für das Sportklettern (IFSC) bietet Zertifizierungen für Routenbauer an. Kletterinnen und Kletterer müssen neben der Erfahrung in der Zusammenstellung von Routen auch die Fähigkeit mitbringen, auf höheren technischen Schwierigkeitsgraden zu klettern.

Die Klettererfahrungen und Umgebungen, in denen die Routenbauer selbst trainieren, beeinflussen unweigerlich ihre Routen. „Ich bin schon immer Sandsteinfelsen im Peak District geklettert und es ist ein ziemlich einzigartiger Kletterstil. Es gibt nicht viele offensichtliche Griffe, es gibt viele subtile Bewegungen. Ich denke, wenn es etwas gibt, das meinen Stil beim Routenbau beeinflusst, dann ist es das Klettern an dieser Art von Felsen, das ist sicher“, verrät Bishton. „Ich denke, mein Stil ist viel mehr von den Kletterabfolgen inspiriert, die ich im Freien absolviere.“

Für die Routenplanung eines Wettkampfs werden daher die Stile vieler verschiedener Kletterinnen und Kletterer vereint, um eine noch nie dagewesene Wand zu kreieren.

Bei den Olympischen Spielen wird es ein Team bestehend aus vier Settern geben, die an der Route sowohl im Bouldern als auch im Lead arbeiten werden. Der Aufbau der Routen findet in der Regel in den fünf Tagen vor dem Wettkampf statt – natürlich vor den Blicken der Athletinnen und Athleten geschützt.

Technische und körperliche Herausforderungen beim Routenbau

Die Kreationen der Routenbauer sind nicht nur eine mentale, sondern auch eine körperliche Herausforderung für die Kletterinnen und Kletterer. „Ich denke, Bouldern kann ein Ganzkörpersport sein. Wenn du deinen Oberschenkel nicht benutzen musst, dann ist es, als hätte es für mich nicht diesen besonderen Reiz. Ich nutze alle möglichen seltsamen Elemente und stelle seltsamen Verrenkungen an, das ist mein Stil.“

Ein guter Routenkurs fordert zugleich die technischen Fähigkeiten als auch idie Kontrolle über den Körper heraus. Die Route sollte ermöglichen, dass Kletterinnen und Kletter in einer fließenden Bewegung die Wand erklimmen können. Die Probleme sollten gleichmäßig auf der Route verteilt sein, anstatt den schwierigsten Teil ans Ende zu setzen, wenn die Teilnehmenden nur noch über wenig Kraft verfügen. Dies gilt ebenfalls für die Lead-Route, die aufgrund der langen Kletterroute noch kräftezehrender sein kann.

„Ich möchte, dass es ein Kletterwettbewerb bleibt. Ich möchte nicht, dass es etwas wird, bei dem wir nur auf die turnerischen Fähigkeiten der Kletternden schauen oder darauf, wie stark sie sind. Es ist cool, ein 'Spielfeld' zu schaffen, wenn man so will, eine Reihe von Problemen, die alle Kletterfähigkeiten auf die Probe stellen“, betonte Bishton. „Ich möchte sicherstellen, dass der beste Kletternde gewinnt, denn das ist das Ziel.“

Eine Skala quantifiziert verschiedene Elemente. Die sogenannte RIC-Skala bewertet drei Parameter von 0 bis 5. Das Risiko ist mit den möglichen Abzugspunkten aufgrund eines Sturzes verbunden, was sich auf die mentalen Aspekte (Vertrauen und Sicherheit) des Kletternden auswirken kann. Die Intensität entspricht den physischen Anforderungen an den Kletternden. Die Komplexität betrifft die Kreativität und Routenbewältigung, basierend auf Übergängen, die nicht sofort offensichtlich sind.

Das Gedankenspiel beim Klettern

Bei der Routenplanung spielt der visuelle Aspekt große Rolle, es wird versucht, das Gefühl von künstlerischer Landschaft zu erzeugen. Die visuellen Besonderheiten einer Route machen auch einen Unterschied, wenn es darum geht, das Publikum anzuziehen, insbesondere bei einer Sportart, die bei den Olympischen Spiele für viele Menschen neu sein wird.

„Eines meiner Ziele als Routenbauer war es, andere zu ermutigen, mit dem Sport zu beginnen und Bewegungen zu entwickeln, die begeistern und inspirieren. Die Bewegung, die wir mitgestalten, wird unweigerlich einen gewissen Einfluss darauf haben, wie Erstzuschauende den Sport erleben und verstehen“, sagte Garrett Gregor gegenüber UK Climbing. Der Amerikaner, der bei Tokio 2020 Teil des Routenbauer-Teams war, wird bei Paris 2024 das Boulder-Team leiten.

Es ist ein Gedankenspiel – viele Kletterstars versuchen, sich in die Setter hineinzuversetzen, den persönlichen Stil an der Wand zu erahnen, um sich so optimal auf die Wettkämpfe vorzubereiten. Es bleibt bei Paris 2024 spannend, denn eins ist sicher: Es wird Kletterrouten geben, die so noch nie da waren!

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