Wer die aktuellen Bilder von Biathletin Lena Häcki-Groß bei der Saisonvorbereitung des Schweizer Teams in Lenzerheide sieht, ahnt nicht, welchen Kampf die Sportlerin hinter sich hat.
Die 29-Jährige wirkt glücklich und strahlt eine besondere Leichtigkeit aus. Doch vor ein paar Jahren war das noch ganz anders.
Häcki-Groß fand erst spät zu ihrer Berufung.
Zunächst war sie in ihrer Jugend im heimischen Schwimmverein aktiv, ehe sie zum Langlauf und schließlich mit 16 Jahren fest zum Biathlon wechselte.
In ihrem ersten Wettkampf verfehlte sie zwar neun von 10 Scheiben, doch davon ließ sie sich nicht entmutigen und wechselte an die Sportschule Engelberg.
Es war der Beginn ihrer Karriere, in der sie mit Staffel-Bronze bei der Junioren-Weltmeisterschaft 2013 schnell einen ersten Erfolg feierte.
2014 debütierte Häcki-Groß im Weltcup für das Schweizer Team.
Aber es war auch der Beginn eines Problems, das die junge Frau von Jahr zu Jahr immer mehr beschäftigen sollte.
Essstörung setzt Negativspirale in Gang
Sie litt an einer Binge-Eating-Störung, bei der es zu periodischen Heißhungeranfällen kommt.
„Das erste Mal damit konfrontiert worden bin ich mit 16, 17 Jahren. Da habe ich mir das erste Mal gedacht. Ich sollte möglichst viel Gewicht verlieren, ich sollte nicht ganz so viel auf den Rippen haben, wenn ich die Sportart weitermachen will“, blickte sie im „SRF“-Interview zurück.
Von Jahr zu Jahr nahm die Essstörung immer größeren Raum im Leben von Häcki-Groß ein.
„Da, wo es zum Leistungssport überging, wo ich mich nur noch auf den Sport fokussiert habe, ist es immer schlimmer geworden, weil ich es als Hauptsache gesehen habe, auf die ich mich konzentriert habe“, erzählte sie weiter.
Von guten Ergebnissen in Wettkämpfen hielt sie das nicht ab. Im Einzelrennen der Olympischen Spiele Pyeongchang 2018 belegte sie Rang acht. Seitdem ist sie auch klar die Nummer eins im Schweizer Biathlon-Team.
In der Loipe trumpfte sie immer wieder mit ihrem Kämpferherz auf, zu viele Fehler am Schießstand verhinderten allerdings oft noch bessere Resultate.
Doch ihren größten Kampf erlebte sie nicht mit dem Gewehr am Anschlag. Er tobte in ihrem Inneren.
Beim Essen fühlte sie sich beobachtet, sie versuchte ihr Problem vor ihrem Umfeld zu verstecken. So drehte sich in ihrem Kopf bald alles nur noch um die Essstörung.
„Ich hatte wenig Kapazitäten für andere Sachen, weniger Kontakt zu Freunden oder Familie, weil es energetisch nicht mehr möglich war“, erzählte Häcki-Groß.
Eine Negativspirale setzte sich in Gang: „Das Selbstwertgefühl ist zum Teil am Nullpunkt gewesen. Ich habe mich in meinem Körper nicht mehr wohl gefühlt. Ich habe mich extrem schlecht gemacht und meine Willensstärke schlecht gemacht. Das ist eigentlich etwas gewesen, wo ich als Athletin immer stolz auf mich gewesen bin und immer noch bin, dass ich einen extremen Willen zum Kämpfen und Weitermachen habe.“
Mit freiem Kopf Richtung Heim-WM
Als sie sich auch von ihrem heutigen Ehemann Marco Groß, dem Sohn des mehrfachen deutschen Olympia-Medaillengewinners Ricco Groß, und ihrer Familie fragen lassen musste, ob denn alles in Ordnung sei, kam der Zeitpunkt des Handelns.
Im Frühjahr 2021 begab sich Häcki-Groß in eine Therapie. Eineinhalb Jahre brauchte sie, um die Essensanfälle in den Griff zu bekommen.
Schließlich entschied sie sich im Frühjahr 2022, mit dem Thema an die Öffentlichkeit zu gehen.
Einerseits um anderen Athletinnen und Athleten zu helfen, die mit ähnlichen Problemen zu kämpfen haben. Vor allem aber war die Offenbarung ihrer Essstörung auch ein befreiender Akt der Stärke.
„Seither ist mein Kopf frei, ich habe mehr Energie und die Probleme im Griff. Mir gehts wieder gut“, beschrieb sie in der „Schweizer Illustrierte“ die positiven Auswirkungen.
Tatsächlich geht es seitdem auch im Biathlon bergauf für Häcki-Groß.
Den sportlichen Lohn für ihren offenen Umgang mit der Essstörung erhielt sie im Januar dieses Jahres, als sie in Antholz ihren ersten Weltcup-Sieg feierte. Damit war sie die zweite Schweizerin nach Selina Gasparin, die ein Weltcuprennen gewann.
Im März in Oslo legte sie noch einen weiteren Sieg nach und beendete die Saison 2023/2024 auf Rang sechs im Gesamt-Weltcup.
Und so geht sie auch als größte Schweizer Medaillenhoffnung bei der WM in Lenzerheide (12. bis 23. Februar 2025) in die neue Biathlon-Saison, die am 30. November in Kontiolahti/FIN startet.
„Die Gewissheit, ein solches Großereignis zu Hause erleben zu dürfen, ist schon etwas Spezielles“, sagte die 29-Jährige dem „SRF“.
Die Essstörung wird sie weiterhin beschäftigen, wie sie zugibt: „Das Thema ist noch nicht ganz weg. Das wird sicherlich noch eine Zeit dauern, wenn es überhaupt jemals ganz weg geht.“
„Man hinterfragt sich immer, wenn man merkt, man hat wieder bisschen zugenommen. Da brauche ich noch extrem viel Arbeit, dass ich da nicht mehr so fest drauf schaue“, beschreibt sie ihre mentalen Kämpfe.
Aber die Wende zum Positiven ist längst geschafft: „Ich erlaube mir selber wieder viel, ich bin wieder viel glücklicher mit mir selbst. Es geht mir schon sehr viel besser damit, aber es ist sicher noch nicht abgeschlossen.“