Richarlison exklusiv: „Jetzt weiß ich, welche Last Ronaldo getragen hat“

Vor etwas mehr als einem Monat wurde Stürmer Richarlison während eines Qualifikationsspiels für die Fußball-Weltmeisterschaft (Brasilien gegen Bolivien) von Seleção-Trainer Fernando Diniz in der 71. Minute ausgewechselt. Die TV-Kameras filmten, wie der 26-Jährige, der kurz zuvor eine Torchance verpasst hatte, in Tränen aufgelöst auf der brasilianischen Bank zusammenbrach.

Es war ein persönlicher Moment, der zeigte, dass Profisportler nicht gegen den Stress und Druck immun sind, sondern auch nur Menschen sind. Ein paar Tage später lieferte Richarlison beim nächsten WM-Qualifikationsspiel ein Tor gegen Peru, das jedoch wegen Abseits aberkannt wurde. Brasilien holte sich dennoch den Sieg mit 1:0 und gewann ebenfalls gegen auch Bolivien mit 5:1. Nach dem Spiel sagte Richarlison, der mit Tottenham in der englischen Premier League einen schlechten Saisonstart hingelegt hatte (in vier Spielen weder Tor noch Vorlage), dass er plane, nach England zurückzukehren und therapeutische Unterstützung in Anspruch nehmen wolle.

Seit dem Spiel gegen Peru am 13. September hat Richarlison in drei Spielen ein Tor erzielt und zwei Vorlagen für Tottenham geleistet. Die Mannschaft hat mit ihm aktuell den 2. Platz in der Premier-League-Tabelle erreicht.

Anlässlich des heutigen Mental Health Welttags für psychische Gesundheit, einem internationalen Tag zur globalen Aufklärung über psychische Gesundheit, Bewusstseinsbildung und dem Kampf gegen soziale Stigmatisierung, präsentiert Olympics.com ein exklusives Interview mit Richarlison.

In diesem Interview sprach der ehemalige Stürmer von Fluminense, wie er im Laufe seiner Fußballkarriere gelernt hat, mit negativen Kommentaren und Erfolgsdruck umzugehen.

Richarlison: „Ich habe viele Menschen gesehen, die sich selbst verloren haben.“

Richarlison – mit vollem Namen Richarlison de Andrade – wuchs im südostbrasilianischen Bundesstaat Espírito Santo auf und trat im Dezember 2014 dem Jugendfußballprogramm von América Mineiro bei, nachdem er zuvor bei Real Noroeste gespielt hatte**.** Der junge Stürmer war kurz davor, seine Karriere im Fußball aufzugeben, nachdem er von zahlreichen Vereinen abgelehnt worden war. Richarlisons Leben sollte sich an einem Tag ändern: das Probetraining bei América Mineiro. Für die 600 Kilometer lange Anreise nach Belo Horizonte gab er sein ohne Plan B sein letztes Geld aus. Er wusste, wenn er es nicht ins Team schaffen würde, hätte er auch kein Geld, um nach Hause zu fahren. Richarlison beeindruckte den Trainerstab und sein Traum wurde wahr, er sicherte sich seinen Platz im Verein. Ein halbes Jahr später wechselte er in die erste Mannschaft.

Richarlisons Fußballweg ist gezeichnet durch Beharrlichkeit und Opferbereitschaft. Ihm ist bewusst, dass auch einige andere Fußballkollegen seiner Jugend es geschafft hätten, wenn sie bessere Entscheidungen getroffen hätten.

„Man muss wissen, wie man mit negativen Kommentaren umgeht, aber auch mit positiven, damit einem nicht alles zu Kopf steigt“, sagt der 26-Jährige. „Ich erinnere mich, dass ich mit der U17 bei América [Mineiro] gespielt habe, und es gab viele Jungs, die besser waren als ich und Profis hätten werden können. Aber sie haben sich auf dem Weg verirrt, weil sie in schlechter Gesellschaft waren oder weil sie dachten, sie seien größer, als sie waren.“

„Jetzt weiß ich, welche Last Ronaldo trug“

Das Trikot mit der Nummer 9 nimmt im Fußball einen besonderen Platz ein. Es wird fast immer von Mittelstürmern (auch Stürmer genannt) getragen, welche die vorderste Offensivposition auf dem Spielfeld einnehmen. Sie erzielen in der Regel die meisten Tore für die Mannschaft.

Viele berühmten brasilianischen Spieler trugen bereits die Nummer 9 auf ihrem Trikot, darunter Careca, der Weltmeister von 1970, Tostao, und natürlich den zweifachen Weltmeister und dreimaligen FIFA-Weltfußballer des Jahres Ronaldo Luís Nazário de Lima, besser bekannt als Ronaldo.

Richarlison wurde 2018 zum ersten Mal die Ehre zuteil, das geschichtsträchtige Trikot für Brasilien zu tragen. Er war sich der damit kommenden Erwartungen, sehr bewusst.

„Ich bin sehr stolz darauf, das Trikot mit der Nummer 9 zu tragen, vor allem während der Weltmeisterschaft", sagte Richarlison. Der Stürmer, der unter dem Spitznamen "Pombo" – ein portugiesisches Wort für Taube - bekannt ist, erzielte bei der Weltmeisterschaft 2022, bei der Brasilien im Viertelfinale ausschied, drei Tore in vier Spielen.

„Jetzt weiß ich, welche Last Ronaldo trug und die anderen großen Spieler, die das Trikot getragen haben. Denn wenn du die Nummer neun trägst, wird von dir erwartet, dass du Tore schießt, oder? Darauf muss man vorbereitet sein, denn der Druck ist enorm.“

„Jedes Mal, wenn du spielst, musst du dein Bestes geben. Du musst versuchen, ein Tor zu erzielen, denn es ist ein besonderes Trikot, genau wie das Trikot mit der Nummer 10.“

Auch das Trikot mit der Nummer 10 wurde von einigen brasilianischen Fußballlegenden wie Kaka, Ronaldinho und dem dreimaligen Weltmeister Pelé getragen. Richarlison kam die Ehre zuteil, mit der Nummer 10 auf seinem Rücken bei den Olympischen Spiele 2020 in Tokio im Jahr 2021 zu spielen. Der 1,84 Meter große Stürmer erzielte fünf Tore in sechs Spielen, wurde damit Torschützenkönig des Turniers und verhalf Brasilien zum Gewinn der Goldmedaille.

„Ich will ein Idol für die brasilianischen Fans sein“

Richarlison wird für seine umfangreiche Wohltätigkeitsarbeit und seinen Aktivismus gefeiert. Laut dem Nachrichtenportal Mundo Deportivo spendet Richarlison 10 % seines Einkommens aus Tottenham an Krebspatient*innen. Sie können dadurch kostenlos eine Unterkunft nutzen. Er spendete während der Coronavirus-Notlage in Brasilien Sauerstoffflaschen an die Amazonasstadt Manaus. Er versorgte zudem arme Gemeinden im ganzen Land mit Hunderten Lebensmittelpaketen. Der Star nutzt seine Plattform auch dafür, um regelmäßig verschiedene globale Themen anzusprechen, darunter Rassismus, Armut, Polizeibrutalität, LGBTQ+-Rechte, geschlechtsspezifische Gewalt und Umweltprobleme.

„Ich möchte als Idol in Erinnerung bleiben, als jemand, der das Trikot der Nationalmannschaft mit Ehre getragen hat", sagte er. „Eine Person, die auch abseits des Spielfelds herausragend war und sich immer dafür einsetzte, Menschen zu helfen. Ich möchte ein Idol für die brasilianischen Fans sein.“