Kennen Sie die "Superkräfte" von Darja Varfolomeev?

Von Olympics.com
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A female gymnast performs a ribbon routine.
Foto von 2023 Kyodo News

Olympics.com sprach mit der rhythmischen Sportgymnastin, Varfolomeev nachdem sie in Valencia, Spanien, mit fünf Goldmedaillen für Deutschland Geschichte geschrieben hat. Mit 12 Jahren kam Varfolomeev für ihren Traum nach Deutschland. Erfahren Sie mehr über ihre emotionale Reise zu ihrem Golderfolg.

Darja Varfolomeev kann sich nicht erinnern, wann sie mit der Rhythmischen Sportgymnastik begonnen hat.

Als sie als Dreijährige zum ersten Mal mit in die Turnhalle mitgenommen wurden – ein Alter, in dem Kinder mit einem Ball zu spielen oder mit den Fingern malen. Für sie war es der Anfang einer turbulenten Reise, bei der sie unzählige Stunden dem Training widmen sollte. Sie zog für den Sport als Kind nach Deutschland und lebte dort drei Jahre lang ohne ihre Familie, um schließlich die jüngste erfolgreiche Sportgymnastin aller Zeiten werden.

Die 16-Jährige lächelte und kicherte, als sie sich für ein Interview mit Olympics.com hinsetzte, nachdem sie alle fünf Einzelgoldmedaillen bei den Weltmeisterschaften der Rhythmischen Sportgymnastik 2023 in Valencia, Spanien, gewonnen hatte. Sie drehte sich gelegentlich zur Seite, um mit ihrer Mutter zu tuscheln.

Es war ihrer Mutter Tatjana zu verdanken, dass Varfolomeev zum ersten Mal mit dem Sport in Berührung kam. Tatjana war in ihrer Jugend ebenfalls eine passionierte Rhythmische Sportgymnastin. Im Alter von 18 Jahren zog sie sich aufgrund einer Knieverletzung aus dem Sport zurück. Ihre Tochter trat mit großer Begeisterung für den Sport in ihre Fußstapfen.

Sie übertraf alle Erwartungen und Erfolge ihrer Mutter in Valencia.

„Ich bin unglaublich stolz auf mich. Das werde ich nie in meinem Leben vergessen“, sagte Varfolomeev gegenüber Olympics.com, nachdem sie mit Fünffachgold für Deutschland Geschichte geschrieben hatte. „Meine Eltern sind unglaublich stolz. Sie können es nicht glauben.“

Wie viel ihr die Medaillen bedeuteten, zeigte sich, als in der Rhythmischen Sportgymnastin alle Emotionen herausbrachen: Nach ihrer letzten perfekt abgelieferten Übung lag sie auf dem Boden lag und ihr rollten die Tränen übers Gesicht, als ihr klar wurde, dass sie die fünfte Goldmedaille gewonnen hatte.

Bisher hatte einzig die Russin Evgeniya Kanaeva es geschafft, bei einer einzigen WM so viele Siege zu erzielen. Ein Jahr nach dem Gewinn ihres ersten olympischen Einzelmehrkampftitel gewann sie 2009 die Goldmedaillen bei der WM in Mie und verteidige 2011 ihren olympischen Mehrkampftitel erfolgreich.

Wird Varfolomeev die Königin des Mehrkampfs, Evgeniya Kanaeva, bei den Olympischen Spielen 2024 in Paris vom Thron stoßen können? Olympics.com hat mit der neuen fünffachen Weltmeisterin in Valencia über die Hintergründe ihres Erfolgs gesprochen.

Darja Varfolomeev – Erfolg im Name der Familie  

Varfolomeev wurde in Barnaul, Russland, geboren und ihre Mutter meldete sie im Alter von drei Jahren für einen Kurs der Rhythmischen Sportgymnastik an.

„Meine Mutter hat aufgehört, rhythmische Sportgymnastik zu machen, und sie wollte immer, dass ich es auch mache, also habe ich in gewisser Weise ihre Karriere fortgesetzt“, sagte Varfolomeev.

Die Mission ihrer Mutter weiterzuführen, bedeutete auch, Opfer zu bringen. 2019 zog Varfolomeev nach Deutschland, dem Geburtsland ihres Großvaters, und fokussierte sich dort auf den Sport. Ihre Eltern zogen schließlich nach, aber die ersten drei Jahre verbrachte Varfolomeev ohne ihre Familie in einem fremden Land.

Mit 13 Jahren zog sie mit anderen Gymnastinnen in ein Internat. Varfolomeevs Großvater und Großmutter leben 200 km von der Trainingsbasis entfernt und unterstützten sie, wenn immer sie es konnten.

„Anfangs bin ich allein dorthin gezogen. Meine Mutter und mein Vater gingen nicht mit mir. Das war sehr hart, weil ich die Sprache nicht konnte und dass ich in einem ganz anderen Land war“, erinnerte sich Varfolomeev in fließendem Deutsch.

„Ein neues Land, eine neue Sprache, aber ich habe viel Unterstützung bekommen, vor allem von meiner Trainerin Yulia Raskina und dem Verband, und dann wurde es einfacher.“

Der Besuch einer regulären Schule half ihr anzukommen, Freunde zu finden und die Sprache schneller zu lernen. Innerhalb von zwei Jahren hatte sich Varfolomeev an die deutsche Sprache und Lebensweise gewöhnt.

Die junge Gymnastin gab ihr Debüt bei der Weltmeisterschaft 2022 in Taschkent, Usbekistan, wo sie sofort alle Blicke auf sich zog und vier Medaillen erzielte: Bronze im Einzelmehrkampf, zwei Silbermedaillen im Ball und Band und Bronze im Reifen.

Es folgten zwei Bronzemedaillen bei den Europameisterschaften 2022 in Keulen und Ball sowie vier Podiumsplätze bei ihrem WM-Debüt, darunter Silber im Mehrkampf. Die Italienerin Sofia Raffaeli verwehrte Varfolomeev den Sieg in den Keulen. Ein Jahr später holte sie sich dann lang ersehnten Golderfolg.

„Es ist unglaublich, fünf Goldmedaillen zu gewinnen, besonders im Mehrkampf, der natürlich der wichtigste ist“, sagte Varfolomeev. Sie trainiert unter der Olympionikin Raskina, welche bei den Spielen Sydney 2000 die Silbermedaille im Einzelmehrkampf gewann.

„Ein großes Dankeschön an meine Trainerin, die im Grunde die ganze Arbeit gemacht hat, es waren 70 Prozent von ihr und vielleicht 30 Prozent von mir. Die Vorbereitung auf diese Reise war wirklich hart, aber wir haben es geschafft und im wichtigsten Moment von allen abgeliefert, was mich sehr glücklich macht.“

Die mentale Stärke von Darja Varfolomeev

Varfolomeev hat mit ihrem Golderfolg in Valencia Geschichte geschrieben. Die deutsche Teenagerin ist sich bewusst, dass Körper und Geist harmonieren müssen, wenn sie langfristig erfolgreich sein will.

„Ich denke, die Leute werden sich vielleicht daran erinnern, dass ich mental so stark bin, obwohl ich erst 16 Jahre alt bin“, antwortete Varfolomeev auf die Frage, wie sie in Erinnerung bleiben möchte.

„Ich versuche immer, ruhig zu bleiben. Ich habe keine Angst, weil ich weiß, dass wir viel Zeit mit dem Training verbracht haben“, fügte sie hinzu. „Ich hatte keine Angst, weil ich wusste, dass ich gut vorbereitet war und dann hat alles geklappt.“

Varfolomeev bewies schon in jungen Jahren ihre mentale Stärke, als sie viele Dinge ganz alleine und selbstständig bewältigte, wie der Umzug nach Deutschland. Die Gymnastin nimmt das sportpsychologische Angebot der deutschen Mannschaft in Anspruch, um ihre mentalen Fähigkeiten weiter auszubauen.

„Wir arbeiten mit einer Psychologin zusammen, der uns hilft, wenn wir Probleme haben oder Angst haben, und wir machen auch mentale Übungen wie die Visualisierung der Routinen, sie sauber auszuführen“, sagte Varfolomeev. „Und wenn wir Angst haben, sagt sie uns: Seht her, ihr habt viel trainiert und ihr habt schon viel Erfolg gehabt, ihr könnt alles erreichen.“

Rhythmische Gymnastik nach ihrem Geschmack

Mentale Stärke ist etwas, das Varfolomeev als eine ihrer beiden Superkräfte beschreibt. Ihre zweite Stärke ist ihre Ausdruckskraft.

Wenn die Teenagerin die Wettkampfmusik hört, schlüpft sie in eine Vielzahl von Rollen, ohne dabei ihre eigene Persönlichkeit zu verlieren. Bei ihrer Reifen-Choreografie verwandelt sich bei dem Soundtrack von The Man from U.N.C.L.E in eine Spionin. Wenn Duffys „M****ercy" ertönt, jongliert sie den Ball zum rhythmischen Beat und spielt mit den Emotionen der Liebe. Bei Alex Gaudinos "Destination Calabria" verwandelt sie sich zur Partyqueen und bewegt sich so frei, als würde niemand zusehen.

„Musik ist das Wichtigste, da du sie jeden Tag hörst und jeden Tag mit ihr arbeitest“, erklärte Varfolomeev. Es muss cool sein, damit sich die Leute an deinen Auftritt erinnern. Und ich versuche, jede Routine anders zu gestalten. Das ist mir sehr wichtig. Ich möchte verschiedene Emotionen zeigen, nicht nur Partystimmung, sondern auch einige schwere und verrückte Emotionen. Alles.“

Von all ihren Routinen ist das Band ihre persönlichste Darstellung. Die eindringlichen ethnischen Beats von Havasis Generali lassen die Zuschauer*innen von einem mystischen Land träumen, während Varfolomeevs mit ihren Bewegungen ihre eigene Geschichte als Gymnastin nacherzählt.

„In meiner Band-Routine habe ich eine ziemlich schwere und starke Musik ausgewählt, um meine eigene Reise in die Rhythmische Sportgymnastik zu beschreiben“, sagte Varfolomeev. „Es gab Momente, in denen ich pausiert habe und dann immer besser geworden bin. Ich würde also sagen, dass ich mit meiner Band-Routine versuche, meinen Weg in den Sport darzustellen.“

Abgesehen davon, dass sie Musik hört, wird Varfolomeev gerne kreativ beim Malen nach Zahlen. Für sie ist dieses Hobby perfekt, um vom Training und vom Alltag abzuschalten.

Varfolomeevs Traum von den Olympischen Spielen

Evgeniya Kanaeva ist bis heute die einzige Turnerin, die zwei Olympische Einzelmehrkampftitel gewonnen hat. Nachdem Varfolomeev der Russin bei der WM die Goldmedaillen weggeschnappt hat, träumt sie nun davon, eine Goldmedaille bei der Olympischen Spielen zu gewinnen.

Wenn sie vom DOSB für Paris 2024 ausgewählt wird, könnte sich ihr Traum in Wirklichkeit verwandeln.

Varfolomeev ist nicht zu stoppen. Nachdem sie auf der Weltbühne alles gewonnen hat, will die 16-Jährige noch bessere Leistungen erbringen.

„Es ist immer wichtig, sich zu verbessern. Die Olympischen Spiele sind der wichtigste Wettkampf für jeden Athleten. Ich würde sagen, dass ich im Moment bei etwa 70 Prozent bin, es gibt noch einen Spielraum, um 100 Prozent zu erreichen“ sagte Varfolomeev. „Ich kann den Schwierigkeitsgrad meiner Übung noch erhöhen, sie sauberer ausführen, sodass es keine Möglichkeit für Richter gibt zu sagen: 'Oh, sie hat dies oder jenes nicht getan'. Es gibt immer Dinge, die wir verbessern können, und das ist es, was wir bis zu den Olympischen Spielen schaffen müssen.“

„Es wird eine Menge harter Arbeit vor uns liegen, mental und körperlich, ich bin mir dessen bewusst, aber ich freue mich wirklich darauf. Es wird eine großartige Erfahrung werden.“